Individuell hergestelltes Hüftgelenk:
Das ALDINGER-System
G.ALDINGER
(*), A.WEIPERT(**)
Einführung
Zweifellos sind die Erfolge des künstlichen Gelenkersatzes der größte Beitrag, den die orthopädische Chirurgie für den Fortschritt der Medizin geleistet hat. Vielleicht sind diese Kunstgelenke der größte Beitrag der Medizin in Bezug auf die Verbesserung der Lebensqualität überhaupt. Jährlich werden heute weltweit über 500 000 künstliche Hüftgelenke und knapp halb so viele Kniegelenke eingesetzt. Das metallische Implantat wird überwiegend mit Hilfe von Kunststoff im Knochen verankert. Diese Füllmasse, der 1961 von Charnley eingeführte sogenannte Knochenzement (PMMA = Polymethylmetacrylat), hat den künstlichen Gelenkersatz bei älteren Patienten zu einem verläßlichen Standardverfahren werden lassen.
Problematik
Mit zunehmender Verbreitung dieser Methode mehrten sich allerdings auch die Fehlschläge. Der wesentliche Grund für Mißerfolge liegt in der aseptischen Auslockerung des künstlichen Gelenkes im Knochen. Langfristig gesehen hat der Knochenzement, das Polymethylmetacrylat, mit seiner ungenügenden Biegewechselfestigkeit enttäuscht; seine Bestandteile, im besonderen die Abriebprodukte, sind toxisch und können zu schweren Knochenzerstörungen führen.
Weltweit wird deshalb an der Verbesserung der Fixation von Kunstgelenken ohne Verwendung von Zement gearbeitet. Dennoch bleiben zementierte Kunstgelenke der "goldene Standard", an dem sich zementfreie Prothesenmodelle zu messen haben. Ihre kurz- und mittelfristigen Ergebnisse sind bis heute unübertroffen. Die zementfreien Verankerungstechniken wollen und können nur die langfristigen Ergebnisse verbessern und werden daher überwiegend den "jüngeren" Patienten vorbehalten bleiben. Die eingeschränkte Lebenserwartung läßt Patienten ab dem 7. Dezennium gar nicht mehr in den Genuß der erwarteten besseren Langzeitergebnisse der zementfreien Technik kommen.
Vor etwa 20 Jahren sind einige Orthopäden dazu übergegangen, zementfrei zu implantierende Stiele mit einer grobstrukturierten, rauhen Oberfläche zu versehen. Sie imitierten damit die Oberfläche des Zementes, wie er in die Hohlräume des Knochengeflechtes eindringt. Im zementfreien Fall soll - nun umgekehrt - weiches Knochengeflecht in die Aushöhlungen des Stiels einwachsen ("bony ingrowth"), um den Stiel zu verfestigen.
Andere Autoren verzichten mehr oder weniger auf eine Strukturierung und entwarfen überwiegend glattwandige, sich keilartig, meist nur an wenigen Punkten im Oberschenkelköcher verklemmende Stiele, die sogenannten Preßsitz-Modelle.
Beide Prinzipien, sowohl der Preßsitz, als auch die Oberflächenvergrößerung haben ihre Vor- und Nachteile. Der wesentliche Nachteil all dieser konfektionierten Implantate gegenüber den zementierten Implantaten besteht jedoch im mangelnden Formschluß, dem mangelnden Paßsitz des Stiels im Oberschenkelknochen. Um einem zementfrei zu verankernden Hüftstiel die erforderliche Stabilität in den außerordentlich variabel geformten hüftnahen Oberschenkelköchern zu verleihen, mußte bislang der tragende Knochen für die Aufnahme des Stiels zurechtgearbeitet und damit auch geschwächt werden. Die Erfahrung zeigt, daß in einem Großteil der Fälle die Toleranzbreite des Knochens hinsichtlich der Verankerung zementfreier Stiele genügend groß ist, jedoch kann präoperativ der erforderliche Paßsitz nicht mit der gebotenen Sicherheit abgeschätzt werden. Es gibt noch zu viele frühzeitige Lockerungen mit denen wir uns nicht abfinden dürfen.
Lösungsversuch
Die langfristige Stabilität der Verankerung hat sich als das wesentliche Problem beim künstlichen Gelenkersatz erwiesen. Für das Scheitern der konventionellen Zementtechnik müssen dabei - wie oben ausgeführt - mangelhafte Materialeigenschaften verantwortlich gemacht werden. Bei der zementfreien Verankerung der Hüftstiele sind zur Gewährleistung eines befriedigenden Paßsitzes bislang zum Teil gravierende Eingriffe an der tragenden Knochensubstanz unumgänglich: Der Knochen wird dabei dem Implantat angepaßt.
Wird jedoch durch operative Eingriffe der tragende Knochen beeinträchtigt und damit seine Stabilität geschwächt, so muß das negative Auswirkungen auf die Verankerung der Prothese haben. Denn die Reaktion und Tragfähigkeit des Knochens entscheiden letztendlich über das Lanzeitresultat. Notwendiges Fazit war daher für uns, dem Knochen in der Interaktion mit dem Kunstgelenk unbedingte Priorität zukommen zu lassen. Danach ist nicht der Knochen dem Implantat, sondern umgekehrt das Implantat dem Knochen anzupassen
1,2,3,4,5,6,7.Exakte Vermessungen an einer großen Anzahl von Oberschenkelknochen und eine Auswertung von weit über tausend Röntgenaufnahmen machten die überaus große Variabilität des hüftnahen Oberschenkelknochens deutlich und ließen erkennen, daß das gesteckte Ziel nicht in befriedigendem Maße mit einer vertretbaren Anzahl konfektionierter Standardstiele erreicht werden kann. Optimalen Formschluß ohne Zement bietet letztendlich nur ein mit dem Knochenköcher weitgehend identisches Implantat: der individuell gefertigte Hüftstiel.
Abb. 1 "Computerprothese" nach Aldinger, individuell maßgefertigt auf CT-Basis;
im hüftnahen intertrochanteren Stielbereich mit Hydroxylapatit-Beschichtung .
Methode:
Die neuen bildgebenden Diagnostikverfahren haben den Weg eröffnet, das zu ersetzende Gelenk - lange vor der eigentlichen Operation - räumlich exakt zu erfassen. Unter Ausnutzung dieser digitalen Bildinformation ist die rechnergesteuerte Konstruktion und Fertigung des individuellen, für das jeweilige Femur paßgerechte Kunstgelenk möglich geworden. Die Verwirklichung des Prinzips der individuellen Fertigung künstlicher Gelenke verlangt natürlich einen entsprechenden technologischen Kenntnisstand, wie auch die apparativen Voraussetzungen der CAD/CAM - Technologie (Computer Aided Design, Computer Aided Manufacturing).
Um die Methode auf breiter Ebene durchsetzbar zu machen, war eine Arbeitsteilung erforderlich:
Dem Arzt sollte kein "High Tech Park" in den Operationssaal transferiert werden, er darf nicht zu einem Techniker werden müssen und nicht von seinen eigentlichen Aufgaben abgehalten werden. Er stellt die Indikation zum künstlichen Gelenkersatz und überweist den Patienten dann zum Radiologen. Dort werden mit dem Röntgen - Computertomographen nach einem speziellen Protokoll des Herstellers Querschnitte des Hüftgelenkes in genau festgelegten, räumlichen Abständen vorgenommen. Anhand dieser Aufnahmen und der konventionellen Röntgenbilder plant der Arzt seine therapeutischen Maßnahmen, bestimmt die optimale Position der Gelenkkugel und schickt die Daten zum Hersteller
Dort allerdings wird "High Tech" betrieben, von der Konstruktion über die Fertigung bis hin zur Qualitätssicherung. Nach der Fertigstellung werden das Implantat, eine dazu passende Raspel und wichtige Planungsdaten für die Operation dem Arzt zugesandt.
Die Klinik bestellt den Patienten stationär ein und während der Operation kann der Arzt in Ruhe an die Arbeit gehen, denn ein Großteil der operativ möglichen Schwierigkeiten wurde bereits am Computer erkannt und rechtzeitig eliminiert.
Herstellungsschritte von Individualprothesen
Datenerfassung
Die exakte Vermessung des Femurs ist die absolute Voraussetzung für den späteren guten Paßsitz der Prothese. Von den technischen Möglichkeiten aller bildgebenden Verfahren erfüllt die Röntgencomputertomographie die Voraussetzungen am besten: Entscheidend ist die Güte der räumlichen Auflösung, die Verzerrungsfreiheit und die Umsetzung der Knochendichte in definierte Grauwerte.
Die Ortsauflösung in den jeweiligen Schnitten ist abhängig von der Schichtdicke und kann bis zu 0.3 mm betragen. Damit lassen sich auch noch feine Strukturen der Spongiosa darstellen. Die errechneten Grauwerte im Bild ergeben sich aus der Röntgenstrahlenabsorption, die direkt von der Dichte des Knochens abhängig ist. Harte Corticalis und weichere Spongiosabereiche lassen sich schon optisch gut trennen (siehe Abb. 2).
Abb. 2 CT-Schnitt in Höhe des Trochanter Minor
Während in einer Schicht die Auflösungsverhältnisse als optimal angenommen werden dürfen, ist es nicht möglich, aber auch nicht nötig, in der Femurlängsrichtung mit derselben Genauigkeit den Knochen zu erfassen. Die für eine Rekonstruktion notwendigen Abstände zwischen den einzelnen Schichten liegen im Bereich von 4-20 mm. Diese Abtastschritte werden durch die Stärke der Strukturschwankungen des Femurs vorgegeben, so daß proximal - intertrochantär bzw. im Calcarbereich des Femurs - mit einem wesentlich kleineren Abstand gearbeitet werden muß, als in der relativ homogen verlaufenden Diaphyse.
Die räumliche Auflösung und Verzerrungsfreiheit ist jedoch nicht nur eine Frage der CT-Technik, was in diesem Zusammenhang oft überstrapaziert wird, sondern ganz wesentlich auch eine Frage der Ruhigstellung des Patienten. Um Bewegungsartefakte zu vermeiden, wird ein speziell entwickeltes Lagerungssystem verwendet, das den Patienten während der Dauer der Untersuchung fixiert. Zusätzliche Kontrollen und Korrekturmaßnahmen werden während der Konstruktion durchgeführt, um derartige eventuell auftretende Effekte eliminieren zu können.
Orthopädische Planung
Nach der Computertomographie geht das Bildmaterial zum orthopädichen Chirurgen, der die Prothese nach anatomischen und therapeutischen Gesichtspunkten plant. Als Basis für diese Planung dienen die klinischen Untersuchungsergebnisse, die konventionellen Röntgenaufnahmen und insbesondere bei starken Anomalien in der Form des Femurs auch die Computertomographieaufnahmen.
Die räumliche Lage der künstlichen Gelenkanteile im Körper bestimmt ganz entscheidend den Operationserfolg. Die Position der Gelenkkugel auf dem Prothesenschaft kann aufgrund der individuellen Herstellung in allen drei Dimensionen frei gewählt werden.
So lassen sich für jeden Patienten ganz gezielt Beinlängendifferenzen ausgleichen, durch Femurmedialisierung oder -lateralisierung kann der Kraftfluß in den Knochen optimiert werden und nicht zuletzt können gerade durch die Computertomographie Torsionsfehlstellungen eindeutig nachgewiesen und entsprechend korrigiert werden (siehe Abb. 3).
(a) (b)
Abb. 3 Antetorsionsbestimmung des Femurs aus den CT-Schnitten durch die Kniekondylen (b) und den Schenkelhals (a). Die Antetorsion ist der Winkel zwischen den beiden eingezeichneten Linien und beträgt im dargestellten Fall 65° (anatomisch ca. 10°-20°).
3D - Rekonstruktion der CT- Daten
Das CT-Bildmaterial und die geplante Prothesen-Kopfposition sind dann die Basis für die Konstruktion der Prothese. Vom Femur des jeweiligen Patienten wird aus den CT-Schnitten sowohl die Außen- als auch die Innenoberfläche dreidimensional rekonstruiert.
Für die Konturfindung der Oberflächen des Knochens sind verschiedene Methoden bekannt10,11,14. Neben der Schwellwertmethode können insbesondere auch Kantenverstärkungsalgorithmen wie z.B. Gradientenbildung eingesetzt werden.
Die Genauigkeit bei der Bestimmung der Außenkontur ist durch den abrupten Übergang von Knochen zu Weichteilen sehr einfach und wird kaum von der Wahl der unterschiedlichen Methoden beeinflußt. Wendet man unterschiedliche Verfahren allerdings auf die Innenkontur an, so zeigen sich, bedingt durch die sehr komplexen Strukturübergänge des Knochens im Inneren, Unterschiede bis zu 10% 13. Der für das Prothesendesign relevante Bereich des Femurs ist die tragfähige trabekuläre Übergangsschicht zwischen Corticalis und Spongiosa. Entscheidend für die Wahl einer Methode ist die Reproduzierbarkeit und Konstanz der Erfassung dieses relevanten Bereiches, auch bei unterschiedlicher Knochenqualität.
Am geeignetsten erwies sich die Schwellwertmethode, wobei ein Knochendichtewert zwischen Spongiosa und Corticalis als Grenze verwendet wird. Der Grenzwert selbst - die Schwelle - mußte empirisch aus dem operativen Verhalten und den klinischen Ergebnissen der damit konstruierten Prothesen gewonnen werden.
Die Konturfindung erfolgt automatisch, jedoch können interaktiv Unregelmäßigkeiten, wie störende Knochenlamellen oder eventuelle Unterbrechungen am Knochen vom Konstrukteur ausgeglichen werden. Zur feineren Darstellung der Dichteunterschiede im Knochen wird dabei die Falschfarbendarstellung der CT-Schnitte verwendet.
Zwischen den einzelnen ausgewerteten Schnitten wird eine Interpolation durchgeführt und damit die volle dreidimensionale Rekonstruktion erreicht (Siehe Abb. 4). In dieses Modell kann anschließend die Prothese individuell konstruiert werden.
(a) (b)
Abb. 4 Rekonstruiertes Femur außen und innen (a) mit konstruierter Prothese (b)
KONSTRUKTION
Die Außenkontur des Knochens dient Qualitätssicherungszwecken, während aus der rekonstruierte Innenkontur des Femurs direkt die Prothese konstruiert wird. In erster Näherung wird die Innenkontur selbst als Prothese -ohne jede Einschränkung- angesetzt ("free styled"). In den Konstruktionsfolgeschritten wird diese Form unter Beachtung verschiedener Kriterien modifiziert:
• starke Kurvationen des Femurs dürfen in der Prothese nicht nachvollzogen werden, um ein Einbringen der Prothese in den Markraum ohne Beschädigung der tragenden Corticalis zu ermöglichen,
• Hinterschneidungen werden im Hinblick auf die Explantierbarkeit eliminiert und
• Modifikationen werden im lateral-proximalen Bereich vorgenommen, um das Trochantermassiv bei der Implantation zu verschonen.
• Weitere Modifikationen ergeben sich aus der Simulation der Implantation im Rechner. Potentielle operative Schwierigkeiten können vorhergesehen werden, die entweder weitere konstruktive Maßnahmen einleiten, oder sie werden dem Operateur auf einer individuellen OP-Skizze und -Beschreibung mitgeteilt.
Am Ende der Konstruktion werden für die Fertigung auf den CNC-Maschinen die Laufbahnen der Fräser automatisch berechnet und die dazugehörigen Steuerprogramme erstellt. Direkt eingespielt in die Maschinen ist für die Maschinenbediener keinerlei Programmierarbeit mehr nötig.
Die Prothese wird dann aus einer geschmiedetem Ti-Legierung vollautomatisch gefräst. Die dazugehörige Raspel wird mit einem ähnlichen Programm für jede Prothese ebenfalls individuell gefertigt.
Qualitätssicherung
An die Qualitätssicherung müssen aufgrund der individuellen Herstellungsprozesse besondere Anforderungen gestellt werden, die sich deutlich von den üblichen Verfahren zur Qualitätsprüfung von Standard-Endoprothesen abheben.
Als Beispiel sei die Festigkeitsüberprüfung angeführt: Bei konfektionierten Prothesen werden in der Regel an Prototypen oder chargenbezogen an Stichproben Simulatorprüfungen durchgeführt. Schon Versuche an wenigen Prothesen liefern die entsprechenden Angaben über die erreichte Festigkeit in der Gesamtcharge mit konstruktiv und fertigungstechnisch gleichen Teilen. Individuell gefertigten Prothesen sind Unikate, d.h. es liegen z.B. jeweils sich unterscheidende und unregelmäßige Querschnitte vor. Dazu kommt eine unterschiedliche Orientierung der Kugelposition und damit verschiedene Hebelarme, so daß es unmöglich wird, von der Festigkeit einer Simulatorprothese auf die Belastbarkeit einer anderen zu schließen.
Auch hier konnte nur ein Computerprogramm Abhilfe schaffen: In der Anfangszeit wurde zwar noch jede Prothese doppelt gefertigt und eine davon einem Belastungsversuch bis zum Bruch unterzogen. Gleichzeitig wurde aber ein Programm zur Festigkeitsberechnung geschrieben, mit dem die bei Belastung auftretenden mechanischen Spannungen für jede Prothese berechnet werden. Das Programm enthält freie Parameter, die empirisch aus den Simulatorversuchen ermittelt wurden und mit jedem neuen Versuch weiter aktualisiert werden.
Bei dieser Berechnung wird die bei DIN/ISO standardisierte Methode der Simulatorprüfung im Computer nachvollzogen. Die Prothese ist dabei distal eingespannt und kann bei dynamischer Belastung auf die Kugel proximal frei schwingen. Dies entspricht praktisch dem ungünstigsten Fall, der im Knochen vorkommen kann. Echte Prothesenschaftbrüche im Simulator können mit dieser Methode sehr exakt vorhergesagt werden.
Die Berechnungen werden an jeder Prothese schon während der Konstruktion durchgeführt. Stellt man dabei fest, daß kritische Zonen vorhanden sind, so hat der Konstrukteur noch gewisse eingeschränkte Korrekturfreiheiten zur Verbesserung der mechanischen Festigkeiten, in Extremfällen muß ein Kompromiß zwischen Erhaltung von Corticalis und Prothesenfestigkeit gefunden werden.
Implantation
Die Implantation wird durch die vorangegangene Operationssimulation am Computer wesentlich sicherer. Dabei sichtbar gewordene Unregelmäßigkeiten werden entweder durch konstruktive Maßnahmen an der Prothese beseitigt, oder dem Operateur in einer individuellen OP-Anleitung mitgeteilt. Neben diesen Besonderheiten werden standardmäßig die höchstmögliche Resektion und ein Maß für die Implantationstiefe angegeben. (siehe Abb. 5)
Abb. 5 Röntgenbeispiel einer Individualprothese nach Aldinger
Die Vorteile:
Neben der individuell gestalteten Stielform mit dem bestmöglichen Paßsitz im Knochen kennzeichnen den Individualstiel nach ALDINGER insbesondere die charakteristische Oberflächenstruktur und die individuelle Gelenkgeometrie :
Für die langfristige Funktion einer Prothese im Körper sind zwei Faktoren maßgeblich.
1. die sofortige belastungsstabile Primärverankerung.
2. die langfristig wirksame biologische Sekundärstabilität.
Die rein mechanische Primärstabilität ist unabdingbare Voraussetzung für das notwendige Knochenanwachsen, aber andererseits aufgrund der operationsbedingten und normalen Umbauvorgänge im Knochen auch kein Dauerzustand. Der Knochenumbau verläuft aber nur dann zufriedenstellend, d.h. prothesenstabilisierend, wenn die Belastung durch die Prothese in einem umgrenzten Bereich gehalten werden kann. Sowohl Unterbelastung (z.B. im proximalen Bereich bei rein distaler Verklemmung), als auch Überbelastungen (z.B. an nur wenigen stark belasteten Auflagerpunkten der Prothese) können zu einem Zurückweichen des Knochens von der Prothese führen (Atrophie). Das erforderliche Heranwachsen bedarf also einer großflächigen gleichmäßigen Belastung des Knochens.
Beides kann durch die individuelle Gestaltung der Prothesen erfüllt werden:
Die Primärstabilität wird durch Preßsitz und Verzahnung im bzw. mit dem Knochen erreicht. Insbesondere ist die zur Zeit stark diskutierte Rotationstabilität auf dreifache Weise gesichert:
• Der großflächige konische Formschluß mit dem Knochen wirkt als eine in der Technik bekannte konische Verklemmung (vergl. z.B. eine konische Fräseraufnahme, die die gesamten Rotationskräfte eines Fräsers über einen Konus überträgt).
• die "Spikes" der bogenförmigen Strukturen wirken wie eine Stirnverzahnung gegen auftretende Rotationskräfte und verstärken durch Ihre Oberflächenvergrößerung das "bony ingrowth".
• an der Stelle mit dem größten Abstand von der Femurlängsachse (d.h. kleinstnötige Kraft für einen wirksamen Rotationswiderstand) ist in die Prothesenstruktur ein Steg eingearbeitet, der in die nicht vorgeraspelten trabekulären Strukturen des Calcar eindringt und damit an bestmöglicher Stelle die Rotationsmomente aufnimmt.
Die Bildung der Sekundärstabilität (positives "bone remodelling") wird gefördert durch die individuell ermittelte großflächige Anlage an tragfähige Knochensubstanz. Die Krafteinleitung erfolgt durch die exakte Anpassung im Calcar proximal und flächenhaft. Singuläre (Über-) Belastungspunkte werden dadurch vermieden.
Die freie individuelle Positioniermöglichkeit der Gelenkkugel in drei Dimensionen, also die individuelle Rekonstruktionsmöglichkeit der gesamten Gelenkgeometrie ist ein weiterer Vorteil dieses Systems. Sie hat einen günstigen Einfluß auf die Stellung des Beines, die Beinlänge, auf die Belastungsstabilität und die Beweglichkeit der künstlichen Hüfte. Die Gelenkgeometrie und der das Gelenk stabilisierende und die Bewegung ermöglichende Muskel -, Sehnen - und Bandapparat können damit fein aufeinander abgestimmt werden.
Der Stiel selbst besteht aus einer hochfesten und ausgezeichnet körperverträglichen Titanlegierung.
Die Gelenkkugel ist wegen der günstigen Reib- und Gleiteigenschaften aus Keramik.
Eine zusätzliche Beschichtung des Stiels im hüftnahen Abschnitt mit einer bioaktiven Hydroxylapatit-Keramik (siehe Abb. 1) leistet zusätzliche Dienste. Neben dem Kraft- und Formschluß wird hierdurch noch zusätzlich ein Stoffschluß erreicht, also ein direktes Verwachsen des Knochens mit der Prothese.
Chronologie
Die Idee zu diesem ersten, dem individuellen Knochenköcher angepaßten, zementfreien Hüftendoprothesensystem nach ALDINGER geht auf das Jahr 1981 zurück. 1982 wurde diese Entwicklung weltweit patentiert und 1983 erstmals publiziert1. Dieses System wird bereits seit 1985 mit vielversprechendem Erfolg eingesetzt. KÜSSWETTER und Mitarbeiter berichteten über eine erfreulich niedrige aseptische Lockerungsrate von 1,3% bei den ersten 344 nachuntersuchten, nicht selektierten Patienten (2 Wechseloperationen, 2 evtl. nötige Wechsel)12.
In dieser Untersuchung handelt es sich um Prothesen der ersten Generation, die noch scheibenförmig aufgebaut waren.
Seit 1992 werden die Prothesen in der gezeigten Weise (Abb.1) mit der beschriebenen optimierten Oberflächengestaltung angeboten.
Zusammenfassung:
Kein geringerer als Sir John Charnley9, der Nestor der Endoprothetik scheint die zukünftige technische Entwicklung der Endoprothetik vorausgeahnt zu haben, als er 1982 - kurz vor seinem Tode - schrieb: "The future must see this operation more as an example of engeneering than tends to be the case at the moment" (In Zukunft muß die Endoprothetik mehr vom Blickwinkel des Ingenieurs aus betrachtet werden).
Diesem Motto gehorchend wurden konsequent die Möglichkeiten der digitalen bildgebenden Systeme in der Radiologie sowie der industriellen CAD/CAM/CAQ-Technik (Computer Aided Designing / Computer Aided Manufacturing / Computer Aided Quality-Assurance) ausgenutzt, wodurch die Herstellung freigeformter, individuell paßgerechter Kunstgelenke möglich geworden ist. Die Maßfertigung dieser zementfrei zu verankernden ALDINGER-Prothese ersetzt weitgehend die formfüllende Funktion des sogenannten Knochenzements und schafft damit eine günstige Voraussetzung für eine langfristige Stabilität im Knochen.
Die häufig gestellte Frage nach der besten Verankerung eines Hüftstiels kann nicht einfach mit "zementiert" oder "zementfrei" beantwortet werden. Die Beantwortung dieser Frage ist vielmehr abhängig von der Abschätzung des individuell erforderlichen Paßsitzes. Für den älteren Patienten ab dem 7. Dezennium hat sich die Zementiertechnik für den Hüftstiel bewährt, hier besteht kein Bedarf für eine zementfreie Verankerung. In dieser Altersgruppe ist der zementierte Hüftstiel der beste und sicherste Weg zum Erfolg.
Beim jüngeren Patienten bis 65 Jahre mit seiner höheren Lebenserwartung werden die für die zementfreie Technik zu fordernden günstigeren Langzeitresultate jedoch relevant. Nur diese rechtfertigen den größeren Aufwand und die weniger abgesicherte Phase der Primärfixation eines zementfreien Stiels im Knochen. Da man nicht abschätzen kann, mit wieviel Standard der Knochen auskommt, oder wieviel Individualität er benötigt, sollte man sich am jeweiligen Optimum zu orientieren; d.h. ältere Patienten über 65 Jahre sollten mit bewährter Zementtechnik (cement-fit) und die jüngeren Patienten zementfrei mit dem bestmöglichen Paßsitz (computer-fit) versorgt werden.
Literatur